In wechselnden Welten: Lea Ruckpaul als Mädchen Isa und Wolfgang Michalek als Erwachsener. Foto: Conny Mirbach Quelle: Unbekannt

Von Elisabeth Maier

Stuttgart - Aus dem Leben gefallen ist Isa, die Protagonistin in Wolfgang Herrndorfs letztem Romanfragment „Bilder deiner großen Liebe“. Darin schreibt der Autor, der unheilbar an einem Hirntumor erkrankt war und im August 2013 Suizid beging, die Geschichte des eigenartigen Mädchens fort, das in seinem Erfolgsroman „Tschick“ eine tragende Rolle spielt. Im Angesicht des Todes nähert er sich der Figur an, die ihm in seinem früheren Werk noch so fremd zu sein schien. In der Spielstätte Nord des Staatsschauspiels hatte jetzt eine Dramatisierung in der Regie Jan Gehlers Stuttgarter Premiere, die bereits im März 2015 in Dresden uraufgeführt wurde.

Die betörende Bildersprache Herrndorfs, seine Poesie des Wahnsinns, kommt in der Übernahme wunderschön zum Tragen. Im abenteuerlichen Fußmarsch der Heranwachsenden, die aus der Psychiatrie flieht und die Fensterscheiben zertrümmert, feiert der todgeweihte Autor seine eigene Liebe zum Leben, aus dem ihn die schreckliche Diagnose riss.

„Verrückt, nicht bescheuert“

„Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist und nicht bescheuert.“ Diesen grandiosen ersten Satz zelebriert Darstellerin Lea Ruckpaul, als sie aus der Unterbühne klettert. Die junge Schauspielerin, auf den ersten Blick fast zu unkompliziert, interpretiert Herrndorfs Prosa meisterhaft. Ganz tief ergründet sie die Seelenwelten, in die der Schriftsteller am Ende seines Lebens vordrang. Klug verknüpft die sportliche blonde Frau die ungestümen Lebensträume des psychisch kranken Mädchens mit den Todesängsten des 48-jährigen Autors, der seinen Sterbeprozess literarisch verarbeitete.

Was ist da die Wirklichkeit, die zählt? Die Antwort auf diese Frage hält die virtuose Schauspielerin bewusst in der Schwebe. Wie eine Schizophrene lebt ihre Figur in wechselnden Welten. Sie krümmt sich auf dem Boden, folgt der Spur der Verzweiflung im Text. Dann erweckt sie voll komödiantischer Lust mit ihrem grünen Turnanzug einen taubstummen Jungen aus dem Dämmerzustand. Mit ihrer subtilen, kraftvollen Körpersprache haucht Ruckpaul Herrndorfs brillanter Sprachkunst Leben ein. Das macht die Faszination des Abends aus, für den Sabrina Rox eine schwarze, schräg abfallende Bühne geschaffen hat. Dahinter sind Berge und ein Himmel zu erkennen, der in immer neue Farben getaucht wird - blitzschnell wechseln so Stimmungslagen. Cornelia Kahlert hat für Isa farbenfrohe Kostüme ersonnen. Dagegen trägt der Mann, der ihr steter Begleiter ist, unauffällige weiße Hemden und eine schwarze Hose, dazu auch mal eine ausgebeulte Jacke.

Wolfgang Michalek verkörpert den Erwachsenen, der in viele Rollen schlüpft. Vor allem aber ist er der liebevolle Vater, mit dem die kleine Isa beim Zelten im Schlafsack kuschelte und Nüsse futterte. Nach ihm sehnt sich die Heranwachsende, die ihren Halt im Leben verliert. Michalek, der als frustrierter Frachtschiffkapitän eine ebenso starke Figur macht wie als jugendlich-schnodderiger Lover, bringt Herrndorfs philosophische Reflexion über den Tod mit erschütternder Klarheit auf den Punkt. Mit tiefer Stimme fragt er, was denn eigentlich Zeit ist: „Bald wirst Du es wissen, und dann liegst Du einen Meter fünfzig unter der Erde.“

Ins Herz der Gegenwart

Lange war Herrndorf in den Wochen vor seinem Tod unentschlossen, ob sein letzter Roman überhaupt veröffentlicht werden sollte. Schließlich rang sich der sterbende Künstler aber doch dazu durch. Fieberhaft arbeitete er mit Freunden und Weggefährten bis zuletzt an dem Werk, das erneut auf den Bestsellerlisten landete. Sein literarisches Vermächtnis trifft ins Herz einer Gegenwart, die gerade junge Menschen in Extremsituationen peitscht. Angesichts der gesellschaftlichen Krise und des Werteverfalls finden sie sich in der Welt nicht mehr zurecht, verlieren die Nerven oder laufen Amok. Diese gefährliche Tendenz erfasst Herrndorfs Literatur, die Jugendliche ebenso packt wie Erwachsene.

Jan Gehlers Regie akzentuiert diese Relevanz des Textes, ohne dabei die persönlichen Töne zu unterschlagen. Das liegt nicht zuletzt an der bemerkenswerten Bühnenfassung. Der Dramaturg Robert Koall hat Herrndorfs Text in eine packende Szenenfolge übertragen, die dessen bildertrunkene Prosa respektvoll auf die Bühne bringt.

Weitere Vorstellungen: 2., 5., 11. und 12 Oktober sowie 6., 22., 25. und 29. November.