Alon Wallach (links) und Ahmet Gül wollen mit der emotionalen Kraft der Musik Brücken zwischen Kulturen und Religionen schlagen. Foto: Bulgrin Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Esslingen/Stuttgart - Der Esslinger Ahmet Gül hat zwei Überzeugungen: den Islam und den Optimismus. „Na also, geht doch!“ ist seine Lieblingswendung. Was geht? Im Kleinen und Privaten zum Beispiel dies: eine Freundschaft des aus der Türkei stammenden Muslims Gül mit dem in Stuttgart lebenden israelischen Juden Alon Wallach. Beileibe keine Selbstverständlichkeit, denkt man ans Große und Politische der Verwerfungen zwischen den Kulturen, Nationen und Religionen. Stichworte wie Nahost-Konflikt, islamistischer Terror, Islam-Phobie, gegenseitiges Unverständnis bis hin zu massiver Intoleranz werfen ihre Schatten aufs Zwischenmenschliche, reduzieren den Umgang von muslimisch, jüdisch oder auch christlich geprägten Menschen oftmals auf eine ignorante Koexistenz, die nur in dem Maße friedlich ist, als sie auf Gleichgültigkeit beruht. In Krisensituationen kann sie jederzeit in Gewalt umschlagen, wie in Wallachs israelischer Heimat. Er führt dies auf jene Unkenntnis zurück: „Ich habe in der Schule kein Arabisch gelernt und wenig über die Palästinenser erfahren. Wir wissen zu wenig voneinander. Wie soll da ein Versöhnungspotenzial entstehen?“

Wissen ist Verständigung

Wallach und Gül wissen sehr viel voneinander, von der Kultur und der Religion des anderen. Und deshalb ist ihre private Freundschaft, auch wenn sie das hochtrabende Wort scheuen, vielleicht doch so etwas wie ein nicht nur privates Modell der Verständigung. Dass sie Güls „Geht doch!“-Devise jetzt in einem großen Rahmen Taten folgen lassen, verdankt sich freilich noch einem ganz besonderen Medium: der Musik. Der Gitarrist Wallach, der an der Stuttgarter Musikhochschule studierte und in Esslingen zweiter Vorsitzender des Vereins der Freunde jüdischer Kultur ist, und der ausgebildete Bariton Gül, im Brotberuf in der Telefonzentrale des Esslinger Klinikums tätig, organisieren ein interkulturelles und interreligiöses Konzertereignis, das unter dem Motto „Auswanderung - Sehnsucht nach der zurückgelassenen Heimat“ am kommenden Samstag im Mozartsaal der Stuttgarter Liederhalle stattfindet. Und dort geht, den Organisatoren zufolge, nahezu alles an musikalischer Grenzüberschreitung. Die Mitwirkenden interpretieren nicht nur Musik ihres eigenen Kulturkreises, sondern auch der anderen Beteiligten. Der deutsche Cantiqua Nova-Chor zum Beispiel singt typisch Türkisches, der Esslinger Chor des türkischen Kulturvereins typisch Deutsches, alle gemeinsam stimmen „Kein schöner Land“ an. Was man dann auf Deutschland ebenso wie auf die zurückgelassene und manchmal schmerzlich wieder herbeigesehnte Heimat beziehen kann.

Für Alon Wallach und sein Ensemble Asamblea Mediterranea, das traditionelle Musik der sephardischen Juden von der iberischen Halbinsel in modernen Arrangements präsentiert, steckt die Interkulturalität bereits in den Tönen selbst: „Als die Juden 1492 aus Spanien vertrieben wurden, flohen viele ins osmanische Reich. Istanbul wurde zu einem Zentrum der sephardischen Kultur“, erklärt Wallach. Die Klänge von hier wie dort begegneten und beeinflussten sich, eine Kennerin dieser Kulturverschmelzung ist im Stuttgarter Konzert ebenfalls vertreten: die Sängerin und Musikwissenschaftlerin Mehtap Demir, eine der führenden Expertinnen für die türkisch-sephardische Musik.

Wenn Gül und der 1980 in Jerusalem geborene Wallach versichern, ein Projekt wie ihr aktuelles Konzert habe es „zumindest in der Region noch nie gegeben“, spricht daraus nicht nur eine werbliche Botschaft. Zwar hat die Trimum-Initiative der Stuttgarter Bachakademie, der Wallach und Gül angehören, Vorarbeit beim musikalischen Brückenschlag zwischen den drei monotheistischen Religionen geleistet. Doch Wallach hat auch die Erfahrung gemacht, dass die „Annäherung der Kulturen über das Emotionale, das die Musik bietet, schwierig wird, wenn die Religion ins Spiel kommt“. Zwischen jüdischen und islamischen Gemeinschaften gebe es jedenfalls kaum Kontakte. Der jüdisch-islamische Dialog sei „noch nie so problematisch gewesen wie heute, der jüdisch-christliche allerdings noch nie so gut wie nach dem Holocaust. Das ist eine merkwürdige Verkehrung, denn historisch war es immer umgekehrt.“ Politische und religiöse Frontlinien gegen eine Verständigung seien jedoch nicht natur- und erst recht nicht gottgegeben, sondern werden „geschaffen von Menschen, die daran interessiert sind.“

Gül, von Geburt an blind, kennt diese Fronten allzu gut - und hat sie in seinem Leben vielfach überschritten. 1970 im zentralanatolischen Konya als Sohn einer streng islamischen Familie geboren, war für ihn alles Weltliche und namentlich die Musik zunächst in weiter Ferne: „Mein Bruder ist Imam und hört nicht mal türkische Volksmusik. Auch seinen Kindern hat er es verboten.“ Mit sieben Jahren kam Gül nach Deutschland, lernte in einer katholischen Blindenschule im Schwarzwald die christliche Kultur kennen, sein Gesangstalent wurde entdeckt. „Ich habe in der Kirche gesungen und zwei Stunden später die Muezzin-Rufe in der Moschee.“ Fazit: Geht doch. „Bach hat nicht nur für die Christen gelebt“, sagt Gül. „Ich bin neugierig, was andere Kulturen und Religionen mir bieten können. Ich mag das deutsche Wort naseweis - als überzeugter Muslim, der im türkischen Kulturkreis verwurzelt ist.“ Aber der islamistische Fundamentalismus, der Umbau des türkischen Staats in eine Autokratie durch Erdogan? „Vielleicht ist da kein Dialog mehr möglich“, räumt Gül ein. Resignation? Von wegen. „Ich bleibe Optimist. Pessimismus bringt rein gar nichts.“

Konzerttermin und Mitwirkende

Das Konzert unter dem Motto „Auswanderung - Sehnsucht nach der zurückgelassenen Heimat“ beginnt am kommenden Samstag um 19.30 Uhr im Mozartsaal der Stuttgarter Liederhalle. Die Mitwirkenden sind:

Der Chor des türkischen Kulturvereins Esslingen in der Leitung von Ahmet Gül.

Asamblea Mediterranea in der Leitung von Alon Wallach mit Musik der sephardischen Juden von der iberischen Halbinsel.

Yaren - Chor für türkische Volksmusik Stuttgart.

Cantiqua Nova - ein deutscher Chor aus Vaihingen an der Enz, geleitet von Marco Bindelli.

Prominente Volksmusik-Solisten aus der Türkei: Mehtap Demir (Sängerin und Kalebassengeigerin), Göksel Baktagir (Kanun/türkische Harfe), Murat Selcuk (Bağlama/Langhalslaute), Mustafa Eke (Kaval/Hirtenflöte), Gürkan Balkan (Ud/Kurzhalslaute) und Mert Eylem Sezgin (Perkussion).

Kartenreservierung unter Tel. 0179/17 48 136.