Wegbereiter des freien Individuums: Szene aus dem Pop-Oratorium mit Hauptdarsteller Frank Winkels als Martin Luther. Foto: Veranstalter Quelle: Unbekannt

Stuttgart -Anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 tourt das Pop-Oratorium „Luther“ durch elf deutsche Städte. An diesem Wochenende wird es zweimal in der Stuttgarter Porsche-Arena aufgeführt. Die Musik stammt vom Komponisten Dieter Falk, die Texte hat Michael Kunze geschrieben, Autor international erfolgreicher Musicalproduktionen sowie zahlreicher Hits von Stars wie Udo Jürgens, Peter Alexander oder Gilbert Bécaud.

Sie haben nicht nur mit Bühnenerfolgen wie „Tanz der Vampire“ oder „Elisabeth“ die deutschsprachige Musicalszene, sondern mit Hits wie „Griechischer Wein“ oder „Ich war noch niemals in New York“ auch die deutsche Schlagerkultur maßgeblich geprägt. Gibt es einen gemeinsamen Schlüssel für Ihre ganz unterschiedlichen Riesenerfolge?

Kunze: Zunächst einmal gilt: Eine gute Geschichte ist eine gute Geschichte. Und die hat mich immer interessiert. Die einen Geschichten haben eben eine größere, andere eine kleine Form.

Sie haben schon Musicals über historische Figuren wie Marie Antoinette, Mozart oder eben Kaiserin Elisabeth geschrieben. Was hat Sie bewogen, ein Pop-Oratorium über Martin Luther zu schreiben?

Kunze: Ich habe vor sieben Jahren zusammen mit Dieter Falk das Oratorium „Die 10 Gebote“ über die biblische Geschichte von Moses und dem Auszug der Israeliten aus Ägypten auf die Bühne gebracht. Das war ein großer Erfolg, und die Stiftung Creative Kirche, die mit der Evangelischen Kirche verbunden ist und das damals aufgeführt hat, schlug zum Reformationsjubiläum vor, etwas über Luther zu machen. Ich habe mir das überlegt und fand, dass das Thema sehr dramatisch ist.

Was hat Sie an Luther vor allem interessiert?

Kunze: Was mich nicht interessiert hat, ist eine Heldenverehrung. Und ich wollte auch keine Schulstunde über Martin Luther machen. Mit dem Oratorium soll vielmehr die Tatsache gefeiert werden, dass es diesen Menschen gab, der sich gegen den kirchlichen Machtapparat ebenso durchgesetzt hat wie gegen den Kaiser, also die höchste politische Autorität im Heiligen Römischen Reich. Dass er dabei nicht nur mit dem damaligen Herrschaftssystem in Konflikt geriet, sondern mit seiner Kritik am Ablasshandel der Kirche auch eine Bankenkrise heraufbeschworen hat, ist allein schon eine hoch interessante Geschichte.

Was hat den jungen Mönch angetrieben, die Ordnung der damaligen Welt auf den Kopf zu stellen?

Kunze: Ich glaube, er hat total individuell gehandelt und die ganze Tragweite seines Kampfes überhaupt nicht überblickt. Und es lag bestimmt nicht in seinem Kalkül und dürfte ihn selbst überrascht haben, dass er durch seinen sächsischen Landesherrn gerettet würde.

Ausgerechnet durch den altgläubigen Kurfürsten Friedrich den Weisen, der eifrig Heilige verehrte und eine der größten Reliquiensammlungen seiner Zeit besaß.

Kunze: Man muss klar sehen, dass Luther und die reformatorische Bewegung letztlich nur überlebten, weil die Fürsten von dieser neuen Konstellation profitieren konnten. Sie nutzten die Situation, um gegen den Kaiser zu opponieren und sich als Territorialherren zu profilieren. Dass die Reformation ihnen neue Möglichkeiten zum Ausbau ihrer landesherrlichen Macht eröffnen würde, das hat Luther mit Sicherheit in dem Moment nicht durchschaut, als er sich vor dem Kaiser zu verantworten hatte.

Im Zentrum Ihrer Geschichte steht der Wormser Reichstag von 1521, auf dem Luther seine als Ketzerei eingestuften kirchenkritischen Ansichten widerrufen sollte.

Kunze: Das ist richtig. Da ist die Dramatik am brisantesten, denn es geht hier wirklich um Leben und Tod.

Inwiefern?

Kunze: Weil wir da einem Menschen begegnen, der in existenzieller Weise mit sich ringt: Soll er bei seiner Meinung bleiben und sich verbrennen lassen oder soll er sagen: gut, ich widerrufe, und so seine Haut retten? Einen solchen Luther, der nicht weiß, ob er das Richtige tut, der von Alpträumen geplagt wird und gegen seine Ängste kämpfen muss, der auch mal versagt, weil er einfach aus Angst seine Überzeugung verleugnet, auf die Bühne zu bringen, finde ich viel spannender, als jemanden hinzustellen, der uns nur den Weg weist.

Was hat ein Luther, der sich vor Höllenfeuerqualen und Teufelswerk fürchtete, der im deutschen Bauernkrieg eine unrühmliche Rolle als „Fürstendiener“ spielte und der antisemitische Äußerungen von sich gab, einer aufgeklärten Zivilgesellschaft noch zu sagen?

Kunze: Ich denke, man sollte sehr vorsichtig sein mit solchen Etiketten. Wir müssen uns klar machen, dass Luther in seinem ganzen Denken noch im Mittelalter beheimatet war. Wenn man ihm Antisemitismus oder Rassismus vorwirft, dann beurteilt man ihn von unserem heutigen Standpunkt aus. Tatsächlich können wir ihn in vielen Reaktionen als Kind seiner Zeit, also des ausgehenden Mittelalters, nicht verstehen. Eine zentrale Botschaft hingegen, die uns heute sehr viel sagen kann, ist: selber denken - gerade in einer Zeit, in der wir förmlich zugebrettert werden mit Informationen, die überwiegend vorgekaut und zunehmend auch mit einer Tendenz versehen sind.

Worin genau besteht Ihrer Ansicht nach Luthers reformatorische Großtat?

Kunze: Dass er im Vertrauen auf Gott konsequent seinem eigenen Gewissen gefolgt ist und an seiner Überzeugung, dass jeder Mensch die Stimme Gottes in der Heiligen Schrift selbst wahrnehmen kann ohne priesterliche Bevormundung, auch im Angesicht des drohenden Scheiterhaufens vor allen Autoritäten festgehalten hat. Luther wollte, dass jeder das Wort Gottes ungefiltert und ohne irgendwelche Interpretationen lesen kann. Das ist sein zentrales Anliegen, und deswegen endet dieses Oratorium auch mit der Bibel-Übersetzung. Luther stieß mithilfe des damals noch jungen Buchdrucks eine ungeheure Emanzipationsbewegung an und wurde zu einem Wegbereiter des freien Individuums. Und das, denke ich, ist schon etwas Großes.

Individualismus, Partizipation und Pluralität scheinen den Protestantismus in der medialen Wahrnehmung und auch als moralische Autorität nicht gerade attraktiver gemacht zu haben. Die Stimme eines Papstes als Weltgewissen hat da schon ein anderes Gewicht.

Kunze: Das mag sein. Dass wir es im Protestantismus mit einer Reihe von Kirchen zu tun haben, die sich föderal zusammengeschlossen haben, ist mir trotzdem deutlich sympathischer als eine monarchisch verfasste Kirche. Auch ein autoritäres politisches System mag nach außen hin stärker wirken als ein demokratisches, dennoch würde ich dieses jenem immer vorziehen. Für mich ist eine Kirche, die Respekt vor dem Gewissen des Einzelnen hat, auf jeden Fall die modernere Art von Institution.

Sie haben kein Luther-Musical, sondern ein Oratorium geschrieben - warum?

Kunze: Das Oratorium folgt ganz anderen Gesetzen. Es ist eine Geschichte, erzählt von einem Chor, in dem einzelne Solisten das, was der Chor vorgibt, auch darstellen. Das ist eher etwas Konzertantes - historisch betrachtet aber die Urform des Theaters, und die hatte schon bei den alten Griechen eine sakrale Bedeutung. Ich habe mich ganz bewusst stark daran orientiert, auch wenn die Musik und die Texte sehr heutig sind.

Das Interview führteThomas Krazeisen.

Die Konzerte heute (19 Uhr) und morgen (17 Uhr) in der Stuttgarter Porsche-Arena sind ausverkauft. Für die Mannheimer Aufführung am 11. Februar gibt es noch Karten (Tel. 02302-2822222 oder www.luther-oratorium.de).

Zur Person

Michael Kunze, Sohn eines Journalisten und einer Schauspielerin, wurde 1943 in Prag geboren. Einen Teil seiner Schulzeit verbrachte er in Stuttgart. Nach seinem Studium begann der promovierte Jurist Ende der 1960er-Jahre als Liedertexter und Schallplattenproduzent zu arbeiten. Stars wie Peter Maffay, Nana Mouskouri, Udo Jürgens und Peter Alexander verdanken ihm ihre größten Hits. Auch international reüssierte der Songwriter und Produzent, etwa mit der Gruppe Silver Convention („Fly Robin Fly“). Seit den 1980er-Jahren ist Michael Kunze vor allem als Musical-Übersetzer (u. a. „Cats“, „Das Phantom der Oper“) und Musical-Autor tätig. Mit Produktionen wie „Tanz der Vampire“, „Mozart!“ und „Elisabeth“ feierte der Librettist Kunze internationale Erfolge - das Musical über die österreichische Kaiserin, das bislang mehr als zehn Millionen Menschen weltweit sahen, avancierte gar zum mit Abstand erfolgreichsten Musical aus dem deutschsprachigen Raum. Und nicht zuletzt hat Michael Kunze neben mehreren Büchern, Theaterstücken und großen TV-Shows auch eine Oper („Raoul“) geschrieben.