Schließlich war Gottfried Silbermann der bedeutendste mitteldeutsche Orgelbauer des Barock. „Wir müssen die Klangfarben der alten Zeit mit dem entsprechenden Instrumentarium wiederbeleben.“

Von Verena Großkreutz

Stuttgart - Strahlend lachen die golden verschnörkelten Schnitzereien dem Publikum entgegen - die Silbermann-Truhenorgel aus der Bach-Zeit oder besser: Ihr Nachbau ist ein sehr edles Instrument. Rechts und links ist das kleine Kasteninstrument mit jeweils zwei Messinggriffen versehen für den Transport, elegant wirkt ihr creme-anthrazitfarbener und hellgrauer Barock-Anstrich. Das Instrument bringt 234 Kilo auf die Waage. Ein leichter Duft nach frisch verarbeitetem Holz und Leim liegt in der Luft des Saales in der Internationalen Bachakademie (IBA). Stolz präsentiert das Haus vor Beginn seines großen Sommerfestivals, des Musikfestes Stuttgart, eine kleine Sensation. Schließlich war Gottfried Silbermann der bedeutendste mitteldeutsche Orgelbauer des Barock, und das Original - eine völlig zerfallene Instrumentenruine - ist erst 2013 in der Schlosskapelle im sächsischen Seerhausen entdeckt worden.

Sensationell war das Ereignis auch, weil bisher kein derartiges tragbares Instrument von Silbermann bekannt war. Die Identifizierung und die Datierung auf das Jahr 1722 wurden zum „Krimi“, sagt IBA-Dramaturg Henning Bey. Nicht nur wegen Kriegsplünderungen 1917 seien der Orgel fast sämtliche Tasten und Pfeifen abhandengekommen. Übrig geblieben seien lediglich eine c-Zinnpfeife und eine h-Taste. So stürzte sich der Dresdner Orgelbaumeister Kristian Wegscheider im Auftrag der IBA in die akribische Recherche und fand Geschwister „der für diese Zeit sehr fein gearbeiteten Pfeife“ in Silbermann-Orgeln anderer Kirchen Sachsens. Weil der Orgelbau damals keine Zunft war, dürften die Werkstätten ihre Instrumente nicht signieren, weswegen sie zu einem anderen Mittel griffen: zur individuellen Verzierung der Tasten-Stirnkante. Auch diese half Wegscheider bei der Zuordnung durch Vergleiche.

„Natürlich“, erläutert Akademieleiter Hans-Christoph Rademann, „musste Wegscheider und seine elf Mitarbeiter die Orgel beim Nachbau den heutigen Bedürfnissen der Alte-Musik-Praxis anpassen.“ Um das Spiel etwa in unterschiedlichen Stimmhöhen möglich zu machen, ist die Klaviatur um einen Ton verschiebbar. Um dem Spieler das Balgtreten zu ersparen, wird die Luftzufuhr per Strom geregelt. Aber der Klang entspricht wohl sehr genau dem, was Rademann als sein Ideal beschreibt: dem „mitteldeutschen Klang“ der Bach-Zeit. Wie unterscheidet sich der von anderen Orgeln? Rademann steckt die Zeigefinger in die Mundwinkel und reißt sie auseinander, dass man die Zähne sieht. Seine Stimme wirkt nun offener und lauter. „So klingt er, erklärte mir unser Orgelbauer. Aggressiver!“

Der neue Silbermann-Orgel-Nachbau, dessen Kosten von knapp 100 000 Euro private Mäzene übernahmen, wird als originalgetreues Exponat barocker Klangvorstellungen das Herz des neuen „Stuttgarter Bach“-Sounds werden, den Rademann anstrebt: „Im Prinzip die Verschmelzung des originalen Bach-Stils mit den Realitäten in Stuttgart. Ich muss ja hier die Räume füllen mit Klang. Da kann ich nicht nur mit fünf Sängern antreten. Ich besetze Bach ein bisschen größer. Ich will einen durchschlagskräftigen Klang.“

Erstmals stellt sich beim Musikfest das neu gegründete hauseigene Originalklangorchester vor, das auf historischem Instrumentarium musizieren wird. Es löst das Bach-Collegium ab, das moderne Instrumente benutzte. Das neue Orchester wird auf Spezialisten ausländischer Spitzenensembles wie „The English Concert“, etwa auf dessen Konzertmeisterin Nadia Zwiener, zurückgreifen und solle eine „Brücke schlagen zwischen führenden Leuten der Alte-Musik-Szene und einigen Musikern des alten Bach-Collegiums“, sagt Rademann. Er leitet seit dem Jahr 2013 die Geschicke der IBA.

Es hatte sich ja schon längere Zeit angekündigt, dass der gebürtige Dresdner ein neues Profil für das Haus entwickeln will. Es gehe ihm „um historisch-stilistische Wahrhaftigkeit“, hat er unterstrichen. Nun ist der entscheidende Schritt getan. Äußerlich sichtbar in der Umbenennung der Ensembles, die vom IBA-Gründer und ehemaligen musikalischen Leiter Helmuth Rilling in den 1950er-Jahren als Gächinger Kantorei (Chor) und Bach-Collegium (Orchester) gegründet wurden und Rilling berühmt gemacht hatten. Sie werden künftig unter dem gemeinsamen Namen Gaechinger Cantorey firmieren - eine historisierende Buchstabenänderung, die Rademann als „Verneigung vorm Vorgänger“ versteht, aber auch als Zeichen, dass es weitergehe im Sinne einer, wie er vorsichtig formuliert, „noch mehr historisch informierten Aufführungspraxis“. „Ich kann den Sinn der Bachakademie nur so verstehen, dass sie versucht, so adäquat wie möglich an die Bach-Musik heranzukommen“, sagt er. „Das hat Helmuth Rilling zu seiner Zeit gemacht. Wir gehen jetzt einen Schritt weiter. Das muss sein.“

Er sieht sich da in der Verantwortung. „Ähnlich wie der Restaurator ein altes Bild wiederherstellt“, sagt er, „müssen wir die Klangfarben der alten Zeit mit dem entsprechenden Instrumentarium wiederbeleben“. Die Silbermann-Truhenorgel werde dabei zukünftig als „klingendes Exponat“ eine große Rolle spielen: Ihr voller, klarer, warmer Sound wird im Orchester deutlicher hörbar sein, als dies bei Orgelpositiven sonst üblich ist, die in der unteren Oktave oft „mulmig und verwaschen“ klängen, erklärt Rademann. Wie das neue Ensemble klingen wird, darauf ist Rademann gespannt. Die Proben haben noch nicht begonnen: „Man weiß, dass man ein tolles Orchester hat, aber man weiß nicht wie es klingt.“ Die Mehrheit der Orchester-Musiker trete beim Musikfest zum ersten Mal an, sagt der IBA-Chef. Und er fügt hinzu: „Im Chor habe ich die Vorleistung erbracht und bin mit einer stabilen Formation am Start. Jetzt bin ich gespannt, wie sich Chor und Orchester aneinander anpassen werden.“

Weitere Infos zum Musikfest unter www.bachakademie.de

Karten: Tel. 0711/6192161 oder online auf www.easyticket.de

Programm-Tipps

Im Eröffnungskonzert in der Liederhalle am 2. September dirigiert Rademann in Monteverdis „Marienvesper“ die Gaechinger Cantorey. Dem „Stuttgart Sound“ inklusive der Silbermann-Truhenorgel kann man zudem in der Mittagsreihe „Sichten auf Bach“ am 6. September in der Stuttgarter Stiftskirche lauschen.

Der spezielle Klang der Silbermann-Orgel kommt im Abschlusskonzert am 11. September in der Liederhalle zum Einsatz: Dann dirigiert Rademann die Gaechinger Cantorey in Händels Oratorium „L’Allegro, il Penseroso ed il Moderato“ HWV 55 - darin eingebaut erklingt Händels Orgelkonzert op. 7, Nr. 1.

Ein weiterer Höhepunkt: Unter dem Motto „Himmlischer Reichtum“ kombiniert am 4. September das Gustav Mahler Jugendorchester unter Leitung von Philippe Jordan in der Liederhalle Bruckners Neunte Sinfonie mit Bachs Solo-Kantate „Ich habe genug“, deren Bass-Partie Christian Gerhaher übernimmt.