Freiheitssehnsucht in einer restriktiven Gesellschaft: Probenszene aus der Stuttgarter Neuproduktion „I Puritani“. Foto: A.T. Schaefer Quelle: Unbekannt

Stuttgart -Morgen hat als letzte Neuproduktion dieser Spielzeit „I Puritani“ (Die Puritaner) an der Stuttgarter Oper Premiere. Nach „Norma“ und „La Sonnambula“ ist es die dritte Bellini-Inszenierung des Regie-Duos Jossi Wieler und Sergio Morabito. Im Gespräch mit Thomas Krazeisen erläutern der Intendant und sein Chefdramaturg den Reiz dieser Oper über eine Frau, die Opfer eines rigiden ideologischen Systems wird und darüber dem Wahnsinn verfällt.

„I Puritani“ gilt als belcantistisches Sängerfest, das Libretto von Carlo Pepoli mit seinen Brüchen, Kolportageelementen und Klischees eher als Schwachstelle von Bellinis letzter Oper. Teilen Sie diese Ansicht?

Wieler: Es ist ja auch kein Schauspiel, sondern ein Libretto für Musiktheater. Da ist alles mit viel freier Fantasie erfunden. Gleichwohl ist es ein kostbarer Kosmos, dem Bellinis Musik eine besondere Öffnung gibt.

Morabito: Es gibt kein objektives Kriterium dafür, was als schwaches oder starkes Libretto zu bezeichnen ist. Solche Urteile oder genauer: Vorurteile rühren daher, dass man eine Oper in einem bestimmten Kontext sieht und mit anderen Stücken vergleicht, die heute wie selbstverständlich auf der Opernbühne gespielt werden. Die Werke, die sich schließlich durchgesetzt haben, wären in dieser Lesart gewissermaßen die stärksten, die Sieger. Wir wollen hier an der Oper Stuttgart ja eben nicht einfach „Sieger-Geschichtsschreibung“ betreiben, uns interessieren vielmehr die Verluste dieses vermeintlichen oder tatsächlichen Fortschritts im Musiktheater, der dann dazu geführt hat, dass die Werke eines Verdi etliche seiner Vorgänger Donizetti oder Bellini ausgeblendet haben. Opern sind grundsätzlich keine „Werke“, die man vermeintlich objektiv bewerten kann, sondern Angebote an das Theater. Ob und wie man diese Angebote annimmt, einzig das entscheidet über die Triftigkeit eines Musiktheaterabends.

Man hat nicht selten das Gefühl, dass Belcanto-Ausgrabungen vor allem den kommerziellen Interessen der Opernindustrie geschuldet sind. Was waren Ihre Gründe für diese Neuproduktion?

Morabito: Wenn man so ein Stück wie „I Puritani“ ausgräbt, das möglicherweise in Stuttgart noch nie gespielt wurde, dann reicht es nicht zu sagen: Das traditionelle Repertoire ist erschöpft, der Betrieb möchte nicht die 200. „Bohème“ und den 300. „Fliegenden Holländer“ sehen, also engagieren wir tolle Sänger, deklarieren das Ganze als Belcanto-Fest und schauen zu, dass es szenisch anständig über die Bühne geht. So verstehen wir nicht unsere Aufgabe.

Wieler: Es macht ja nur Sinn, sich einem unbekannten Werk zu nähern, wenn man sich neue, eigene Bewertungskriterien erarbeitet. Uns interessiert dabei vor allem die Frage: Was wirkt veraltet als musiktheatralischer Ausdruck, was ist uns heute fremd geworden? Und wir versuchen ja immer, gerade auch aus diesem uns fremd Gewordenen Kreativität zu beziehen und es nicht einfach auszublenden oder so umzubiegen, dass es uns vertraut erscheint.

So unmittelbar zugänglich die Musik Bellinis ist, so fern erscheint heute ein politisch-konfessioneller Konflikt aus der Zeit des englischen Bürgerkriegs und die Geschichte einer dem Wahnsinn verfallenen Protestantin. Welche Geschichte wollen Sie mit den „Puritanern“ erzählen?

Wieler: Es gibt wie bei allen anderen Bellini-Opern auch hier einen historisierenden Hintergrund, aber es geht mitnichten um eine historische Dokumentation einer bestimmten Epoche - in diesem Fall des 17. Jahrhunderts; das wäre für diese im wahrsten Sinne des Wortes fantastische Musik zu kurz gegriffen. Bei der Glaubenskongregation der Puritaner handelt es sich um religiöse Dogmatiker, Glaubenskämpfer. Sie stehen für eine radikale Haltung, die jegliche Fantasie, jegliches freiheitliche Denken verbannt, Sinnlichkeit, Bilder, Theater, Musik. Wir haben es also mit einer Art von Fundamentalismus zu tun, der ein breites Assoziationsspektrum eröffnet.

Morabito: Der Reiz besteht ja genau darin, mit dem Widerspruch umzugehen zwischen der historisierenden Textvorlage und der atemberaubenden Schönheit der Musik, die eine so große Eigendynamik entfaltet. Mit ihr wird eine Welt verklärt, die geprägt war von Sinnenfeindlichkeit und Kunstverboten. Der Hedonismus einer höfischen Festkultur trifft hier auf einen asketischen Radikalismus, der sogar das Orgelspiel aus dem Gottesdienst verbannte. Hier entstehen spannende Reibungen, Fantasiepotenziale und damit produktive Angebote an das Theater, das Besondere, Einmalige eines solchen Stückes herauszuarbeiten. Und darum geht es uns: um die Wiederbelebung des Belcanto aus dem Geist des Theaters und nicht aus dem Geist des „Klassik-Marktes“.

Inwieweit ist die individuelle psychische Krise, der Wahnsinn, dem Elvira schließlich verfällt, eine Folge kollektiver Deformationen?

Morabito: Ich denke, man kann das individuelle Schicksal und die kollektiven Verformungen nicht trennen. Der Wahnsinn Elviras erzählt ja etwas über eine Gesellschaft. Er ist von Anfang an präsent, ist systemisch, sonst wäre er nur anekdotisch. Wie Elvira zum Opfer eines solchen Systems wird und was seine rigide Ideologie mit Menschen macht, das muss man erzählen.

Das Prinzip der Persönlichkeitsspaltung und -flucht, das Spiel mit Identitäten prägt ja eigentlich alle Figuren des Stücks. Was bedeutet das für die Inszenierung?

Wieler: Das ist ja das Interessante. Diese schizophrene Grundstruktur beginnt schon damit, dass es quasi zwei Väter gibt; ihren Onkel erklärt Elvira ja zum zweiten Vater - er ist sozusagen eine Erfindung von ihr. Dann gibt es zwei Bräutigame: Riccardo, der vom Vater vorgesehen ist, und den Wunschpartner Arturo. Damit nicht genug, taucht plötzlich auch noch eine zweite Braut auf: die verschleierte Stuart-Königin, die so getarnt das Gefängnis verlassen kann. Durch diese Art von Persönlichkeitsspaltungen entstehen parallele Wirklichkeiten, die von Anfang an das ganze Stück prägen und die auf einer anderen Ebene begriffen und erzählt werden wollen als der rein narrativen.

Ein schwerer systemischer Defekt wird im Libretto mit einem Hauruck-Happy-End kuriert - das wirkt nicht unbedingt glaubwürdig.

Wieler: Ich denke, dass das, was in Menschen an Gedankengut und an Religion quasi eingepflanzt wurde, nicht so schnell wieder aus ihnen herauswächst. Und das, was eine Elvira zum Wahnsinn treibt, ist - jedenfalls psychologisch betrachtet - so schnell nicht mehr heilbar. Von daher mag man denken, das ist einer Opernkonvention geschuldet, dass es zu einem solchen Happy End führen muss. Aber alles könnte ja tatsächlich auch ein Traum sein, eine Freiheitssehnsucht in einer restriktiven Gesellschaft.

Morabito: Wir haben diese Traummomente als enorm produktiv empfunden, weil wir genau auf dieser Gratwanderung zwischen Traum und Wachheit, zwischen Tagtraum und Halluzination erfahren, was den Druck der realen Verhältnisse, gegen den die Fantasie anträumt, ausmacht. Beides ist wichtig, und beides müssen wir erzählen. Und wir haben das Gefühl, beides ermöglicht Bellini.

Das Interview führte Thomas Krazeisen.

Die Premiere beginnt morgen um 19 Uhr im Stuttgarter Opernhaus.