Von Thomas Krazeisen

Nürtingen - Eigentlich sollte dieser Tagesordnungspunkt in der Gemeinderatssitzung am Dienstagabend im Nürtinger Rathaus nicht nur abermals beraten, sondern endgültig beschlossen werden, zumal in der Sache schon reichlich Zeit verlorengegangen ist. Bereits im Frühjahr hätte der Gemeinderat eigentlich grünes Licht für die von der Stadtverwaltung favorisierte Lösung beim Projekt Bildungszentrum am Schlossberg geben sollen, um zügig einen Architektenwettbewerb starten zu können. Das kulturelle Vorzeigeprojekt der nächsten Jahre betrifft neben der Musikschule und der Volkshochschule vor allem das Hölderlinhaus. Dieses gibt schon lange eine mehr als traurige Visitenkarte für den weltberühmten Sohn der Stadt ab, der den größten Teil seiner Kindheit und Jugend hier verbracht hat und auch später immer wieder in „der Mutter Haus“ nach Nürtingen zurückgekehrt ist.

Doch aus dem Startschuss für das gerne als „Leuchtturmprojekt“ apostrophierte Vorhaben ist zunächst nichts geworden. Nachdem das Regierungspräsidium den städtischen Etatentwurf nicht genehmigt hatte, mussten auch die Modernisierungspläne für das Dichterhaus erst einmal auf Eis gelegt werden. Dabei drängt die Zeit - im Jahr 2020 steht mit dem 250. Geburtstag Hölderlins ein international beachtetes Großjubiläum an. Deshalb drückte die Verwaltungsspitze um Oberbürgermeister Otmar Heirich zuletzt aufs Tempo, um die Sache endlich in trockene Tücher zu bringen. Schließlich will man am großen Tag nicht blamiert dastehen.

Die Zeit drängt

In der vergangenen Woche hatte das Stadtoberhaupt in einer Pressekonferenz noch einmal für die Pläne der Stadtverwaltung getrommelt. Diese sollten nun in der jüngsten Gemeinderatssitzung endlich abgesegnet werden. Doch diesmal machte das Gremium selbst dem OB einen Strich durch die Rechnung. Die vom Rathaus angesichts der drängenden Zeit zuletzt mit Macht betriebene große Lösung einer Sanierung mitsamt Erweiterung, deren Verabschiedung kaum mehr als eine Formsache zu sein schien, ist damit vorerst einmal vom Tisch. Zu groß sind offensichtlich die Bedenken und Fragezeichen hinsichtlich der seriösen Finanzierbarkeit der teureren Variante des Kulturprojekts am Schlossberg. Nachdem sich am Dienstagabend keine Mehrheit für den von der Verwaltung präferierten Weg abzeichnete, zog der OB die Notbremse und nahm den Punkt von der Tagesordnung. Und so kommt die Causa Hölderlinhaus einmal mehr in eine nichtöffentliche Gesprächsrunde, ehe ein neuer Anlauf in der Ratsrunde genommen werden kann.

Die von der Stadt bevorzugte Planungsvariante sieht für das Hölderlinhaus neben einer umfassenden Sanierung eine Aufstockung des bestehenden Gebäudes vor (wir berichteten). Das neue Dach soll optisch so wie das alte aus der Zeit Hölderlins aussehen. Diese historisierende Lösung mit einem sogenannten gewalmten Mansard-Dach - in diesem Fall mit größerer Firsthöhe, wobei das neue Dach auf die bestehende Traufkante aufgesetzt würde - hat aus Sicht der Stadt den Vorteil, durch ein neu gewonnenes Geschoss zusätzliche Nutzfläche zu erhalten. Raum, der dem aufgewerteten Bildungszentrum am Schlossberg zugute kommen soll. Die geplante Hölderlin-Dauerausstellung soll im ehemaligen Wohnhaus des Dichters auf einer Fläche von circa 90 Quadratmetern präsentiert werden.

Verwaltung will große Lösung

Nach den Schätzungen der Stadt würde die von ihr gewünschte Sanierung mit Aufstockung mit 4,6 Millionen Euro zu Buche schlagen. Man verweist darauf, dass eine grundlegende Ertüchtigung des maroden Gebäudes, also umfangreiche Maßnahmen für Brand- und Wärmeschutz, EDV-Technik und nicht zuletzt Barrierefreiheit, ohnehin anstünden. Die Kosten hierfür beliefen sich auf etwa 2,6 Millionen Euro. Knapp zweieinhalb Millionen Euro sollen über mehrere Jahre gestreckt aus dem Etat des Eigenbetriebs Gebäudewirtschaft der Stadt Nürtingen (GWN) kommen, die fehlenden rund zwei Millionen aus städtischen Haushaltsmitteln bestritten werden.

Die teurere (Aufstockungs-)Variante würde nicht nur zwangsläufig andere Sanierungsprojekte auf der Prioritätenliste nach hinten schieben. Die Stadt denkt bei der Generierung von Finanzierungsmitteln offenbar auch über eine Privatisierung von städtischen Kindergärten nach. Derweil will man an der Rathausspitze erste Aufhellungen am bis vor Kurzem noch düsteren Konsolidierungshimmel ausmachen. Gutwetterzeichen, die man in Teilen des Nürtinger Gemeinderats so offenbar nicht beziehungsweise derzeit noch nicht erkennen kann. So könnte eine Präzisierung der Sanierungs-Prioritätenliste beziehungsweise Aktualisierung der Bewertung des städtischen Vermögens das freundlich gezeichnete Bild rasch wieder eintrüben - und die vom OB quasi für beendet erklärte Dachform- beziehungsweise Aufstockungsdebatte im Gemeinderat neu entfachen.

Dolde: Aufstockung unnötig

Erst recht, wenn sich herausstellen sollte, dass man den zusätzlichen Raum gar nicht bräuchte. Ingrid Dolde, Vorsitzende des Nürtinger Hölderlinvereins, der sich nicht, wie gerne insinuiert wird, für einen Teilabriss beziehungsweise Rückbau, sondern für eine bestands- und zugleich budgetschonende Sanierung einsetzt, bestreitet die „Alternativlosigkeit“ der Aufstockungsvariante. Sie geht aufgrund des von der Stadt angemeldeten Raumbedarfs vielmehr davon aus, dass sich das geplante Bildungszentrum auch im Rahmen einer „kleinen“ und damit Kosten sparenden Lösung realisieren lässt, und beklagt, dass diese Alternative von der Stadtverwaltung bislang nicht näher geprüft worden sei.

Die von der Verwaltung angestrebte Maxi-Lösung hätte nicht nur finanziell einen hohen Preis: Bei der Aufstockung des Hölderlinhauses würde durch statische Maßnahmen - Stahlträger, die kreuz und quer durch den Kubus gezogen werden müssten - die vorhandene Originalsubstanz erheblich beeinträchtigt, ja weitgehend zerstört, warnt Dolde. Diese historische Substanz aber ist im Nürtinger Hölderlinhaus noch so reichlich wie in keinem anderen vorhanden.

Wie es scheint, gibt es nicht nur hinsichtlich der finanziellen Möglichkeiten der Stadt noch Klärungsbedarf. Ansonsten könnte es am Ende in Nürtingen ein böses Erwachen geben, sollte sich eines Tages herausstellen, dass man für unnötig viel Geld unwiederbringlich viel kulturelles Erbe zerstört hat.