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Vom Schweizerhof zum Schulgebäude: Das Hölderlinhaus ist wiederholt umgebaut worden. Auch Ehrenbürger Peter Härtling hat einen Appell für die Erhaltung der historischen Substanz unterzeichnet.

Von Thomas Krazeisen

Nürtingen -„O Freunde! Freunde! die ihr so treu mich liebt! Was trübet meine einsamen Blicke so?” Friedrich Hölderlin schaute nicht, wie es den Anschein haben könnte, beim Verfassen dieser Zeilen vom Dichter-Olymp auf sein Nürtingen herab, das derzeit finanziell so klamm ist, dass die Stadt die vom Gemeinderat geplante Sanierungsvariante erst einmal zurückstellen musste. Diese sieht für das ehemalige Wohnhaus des berühmten Sohnes der Stadt eine Aufstockung des bestehenden Gebäudes, in dem derzeit Unterrichtsräume der Volkshochschule und der Musikschule untergebracht sind, um rund zwei Meter vor. Dabei soll auf der Traufkante ein sogenanntes gewalmtes Mansard-Dach aufgesetzt werden, wie es das Haus auch schon zu Hölderlins Zeit hatte. Von dem dadurch erzielten Raumgewinn würde dann nicht nur die Volkshochschule profitieren, deren Verwaltung ebenfalls im neuen Hölderlinhaus untergebracht werden könnte, sondern auch die örtliche Erinnerungskultur - bisher wird des großen Nürtingers lediglich in einem Raum des Stadtmuseums gedacht. Die Sanierung des Hölderlinhauses ist in diesem Konzept Teil einer Ensemble-Lösung, in welche neben dem Hölderlinhaus als künftigem Lehr-, Lern- und zentralem Erinnerungsort auch die Schlossbergschule und die Musikschule als Teile des geplanten Bildungszentrums am Schlossberg miteinbezogen werden sollen.

Nachdem Anfang dieses Jahres das Regierungspräsidium Stuttgart den Etatentwurf der Stadt Nürtingen nicht genehmigt und eine Überarbeitung des mittelfristigen Investitionsprogramms durch die Stadt angemahnt hatte, mussten unter anderen Projekten auch die Pläne für die Neugestaltung des Bildungszentrums am Schlossberg erst einmal auf Eis gelegt werden.

Für den Nürtinger Hölderlin-Verein ist die Kuh in bauhistorischer Hinsicht noch nicht von selbigem. Die Vorsitzende Ingrid Dolde und ihre Mitstreiter setzen sich für eine Lösung ohne Aufstockung ein, um die Authentizität eines der bedeutendsten Dichterhäuser weit und breit zu bewahren. Sie wollen im Bestand schonend sanieren, um möglichst viel von der Bausubstanz des ehemaligen Wohnhauses Hölderlins zu bewahren. Aus Doldes Sicht gibt es keine stichhaltigen Sachargumente für eine Aufstockung des Gebäudes, und schon gar keine räumlichen: „Im Hölderlinhaus stehen schon jetzt rund 1250 Quadratmeter Fläche zur Verfügung - Platz ist also genügend vorhanden“, so Dolde. Wohl aber gebe es gute Gründe für eine bestands- und budgetschonende Sanierung - nicht zuletzt könnte so die ganze Geschichte des Gebäudes erzählt werden, in der die Hölderlin-Zeit das wichtigste, aber eben nicht das einzige Kapitel bildet.

Dazu muss man wissen, dass „der Mutter Haus“ im Laufe der Zeit bereits mehrfache Veränderungen erfahren hat, wie auch aus einem bauhistorischen Gutachten aus dem Jahr 2009 hervorgeht, das die Stadt Nürtingen in Auftrag gegeben hatte. Was wir heute vor uns haben, ist also selbst historisches Zeugnis eines sich wandelnden Umgangs mit der eigenen Geschichte. Nichts dokumentiert dieses fluide Verhältnis zur eigenen Vergangenheit anschaulicher als die Tatsache, dass noch vor fast einem Jahrzehnt der Abriss des Hölderlinhauses und seine Ersetzung durch einen Neubau als beschlossene Sache galt.

Die Gebäudearchäologie ist durch die zahlreichen Eingriffe im Lauf mehrerer Jahrhunderte nicht ganz einfach. Seit dem 19. Jahrhundert ist das Hölderlinhaus, in dem von 1774 bis 1798 die Familie wohnte, vor allem ein Schulhaus. Einen gravierenden Eingriff in die Gebäudehülle gab es Anfang des vergangenen Jahrhunderts, als das Mansard-Dach aus dem 17. Jahrhundert umgebaut wurde und auf das Obergeschoss ein flaches Walmdach aufgesetzt wurde.

Auch ohne die nachträglichen Erweiterungen war das Hölderlinhaus einst ein Wohnhaus von stattlichen Ausmaßen. Früher hatte dort der Schweizerhof, also das landwirtschaftliche Gebäude des Nürtinger Schlosses, gestanden, welches für viele Jahre als Witwensitz der württembergischen Herzoginnen fungierte. Dieser ehemalige Schweizerhof war nach dem verheerenden Stadtbrand im Jahr 1751 wieder aufgebaut worden und diente zunächst dem Spitalmeister als Wohnung, ehe es in den Besitz der Familie Hölderlin-Gok kam - die Mutter hatte nach dem frühen Tod ihres ersten Mannes Johann Christoph Gok geheiratet, 1774 zog die Familie nach Nürtingen um.

In der württembergischen Erinnerungstopographie kommt Nürtingen nicht nur wegen der noch vorhandenen Bausubstanz des Hölderlinhauses, sondern auch als wichtigem Rückzugs- und Schaffensort des Dichters in späteren Jahren eine besondere Bedeutung zu, was die Notwendigkeit einer adäquaten Sanierung unterstreicht.

Eine der ungeklärten Fragen betrifft den historischen Dachstuhl des Gebäudes. Die Vorsitzende des Vereins Hölderlin-Nürtingen hat sich die Situation vor Ort angeschaut und glaubt, dass unter dem Dach von 1904 das Gebälk des einstigen Barock-Daches noch vorhanden ist. Sie hat deshalb ein dendrochronologisches Gutachten ins Spiel gebracht; für dessen überschaubare Kosten würde der Hölderlin-Verein aufkommen. Dolde fürchtet, dass auch die Decke der Beletage und Giebelwände mit originaler Bausubstanz in Mitleidenschaft gezogen werden und sich die Spuren der Stube Hölderlins in irgendwelchen Fluren verlieren könnten, sollte es zu der von Gemeinderat und Stadtverwaltung angestrebten Lösung kommen. Das aber würde einen irreparablen Verlust an Authentizität dieses Erinnerungsortes mit sich bringen.

Von einer dendrochronologischen Expertise hält wiederum Nürtingens Oberbürgermeister Otmar Heirich wenig und verweist auf das bauhistorische Gutachten und überlieferte Baupläne. Für ihn ist die Aufstockungsvariante im Rahmen eines Schlossberg-Bildungszentrums weiterhin die beste Option.

Volkmar Klaußer, Geschäftsführer des Eigenbetriebs Gebäudewirtschaft der Stadt Nürtingen (GWN), gibt zu bedenken: Selbst wenn man auf die alten Balken stoßen würde, könnten sie beim Umbau an anderer Stelle eingesetzt worden sein.

So oder so - ob Sanierung im Bestand oder Aufstockung: Beim Zustand des Gebäudes, so wie es sich jetzt darstellt, „gibt es Handlungsbedarf”, so weit herrscht Konsens. Eine bauliche Ertüchtigung des Hölderlinhauses ist schon mit Blick auf die Themen Barrierefreiheit und Brandschutz geboten, gibt Klaußer zu bedenken.

Jetzt gar nichts zu tun, wäre also die schlechteste aller Lösungen - und obendrein mit Blick auf das anstehende Hölderlin-Jubiläum eine Blamage. Klaußer ist zuversichtlich, dass auch die Hölderlin-Stadt Nürtingen ihrem berühmten Sohn zum Jubiläum mit einem angemessen hergerichteten Dichterhaus den roten Teppich wird ausrollen können, doch der ursprüngliche Fahrplan dürfte nunmehr wohl kaum einzuhalten sein, so der GWN-Chef. Der Entwurf zur Aufgabenstellung für eine Mehrfachplanung dreier Planungsbüros liegt vor, eigentlich hätte schon vor Monaten der Planungswettbewerb starten sollen. Die Roadmap muss nun überarbeitet werden, jetzt ist der Gemeinderat am Zug, der vor dem Hintergrund der angespannten Haushaltslage die endgültige Marschrichtung beim Hölderlinhaus im Rahmen seiner Prioritätensetzung vorgeben muss.

Während das Projekt in den vergangenen Monaten in den kommunalen Entscheidungsgassen ruhte, rückte es dafür verstärkt in den Fokus der überregionalen Feuilletons, nachdem der Hölderlin-Verein einen schriftlichen Appell an das Nürtinger Stadtoberhaupt richtete, in dem noch einmal eine „authentische Sanierung” eingefordert wird. „Eine Aufstockung und der damit verbundene Zwang zu aufwendigen und teuren Maßnahmen zur Erdbebensicherheit und zum Brandschutz würden zu einer weitgehenden Zerstörung der nachgewiesenen Bausubstanz aus der Zeit Hölderlins führen und (…) das Haus als Wohnhaus Hölderlins unglaubwürdig machen”, heißt es wörtlich in dem Appell an den Nürtinger OB. Dolde verweist darauf, dass es in Deutschland kein Haus gebe, „das als Wohn- und Wirkungsort Hölderlins noch so viel an Originalsubstanz aufweist wie das Hölderlinhaus in Nürtingen.“

Ein mit der authentischen Sanierung untrennbar verbundenes Ziel ist für den Hölderlinverein die Anerkennung des Hölderlinhauses als Denkmal. Diesen wichtigen Förderstatus hat das Gebäude nämlich nach wie vor nicht - weil es bereits durch Umwidmung und Umbau zur Schule Anfang des 19. Jahrhunderts sein barockes Erscheinungsbild eingebüßt habe, wie bei der Landesdenkmalbehörde argumentiert wird. Für Dolde steht die Denkmalwürdigkeit des Hölderlinhauses im Sinne des Denkmalschutzgesetzes außer Frage. Kulturdenkmäler sind danach auch Gebäude, „an deren Erhaltung aus wissenschaftlichen, künstlerischen oder heimatgeschichtlichen Gründen ein öffentliches Interesse besteht“.

Der Appell wird von zahlreichen namhaften Unterstützern mitgetragen. Allen voran vom Romancier und Nürtinger Ehrenbürger Peter Härtling, der seinem Dichter-Ahnen nicht nur ein literarisches Denkmal setzte, sondern wie dieser selbst seine Jugendjahre in der Neckarstadt verbracht hat. Auch der Schriftsteller und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Navid Kermani, die renommierten Literaturwissenschaftler und Hölderlin-Kenner Hans-Ulrich Gumbrecht und Winfried Menninghaus und nicht zuletzt Promi-Philosoph Peter Sloterdijk unterstützen die Forderung nach einem Verzicht auf die geplante Aufstockung des Hölderlinhauses und einer „authentischen Sanierung“ zur Erhaltung der historischen Bausubstanz.

Für welchen Weg man sich auch immer nach der erzwungenen Denkpause in Nürtingen entscheiden wird: „Lass uns vergessen, dass es eine Zeit gibt“ - diesen Rat aus Hölderlins „Hyperion“ sollte man mit Blick auf die tickende Jubiläumsuhr jetzt besser nicht mehr wörtlich nehmen.