Das Wiedersehen mit seiner Ex-Frau Randi (Michelle Williams) reißt in Lee (Casey Affleck) alte Wunden auf. Foto: Claire Folger/Amazon Studios Quelle: Unbekannt

Von Alexander Maier

Esslingen - Für viele ist der Ort, an dem sie lange Jahre ihres Lebens verbracht haben, der Inbegriff von Heimat. Manche tun sich damit allerdings auch schwer, weil unliebsame oder gar traumatische Ereignisse die Erinnerung trüben. Dann kann es hilfreich sein, sich anderswo niederzulassen in der Hoffnung, dass damit auch die Wunden auf der Seele vernarben. Doch das Schicksal fragt nicht nach Befindlichkeiten, und manchmal hat man keine Wahl und muss dorthin zurückkehren, wo man nie mehr hinwollte. Davon erzählt Kenneth Lonergan in seinem Kinodrama „Manchester by the Sea“, das so feinfühlig inszeniert wurde, dass manche in diesem Film und seinem Hauptdarsteller einen der Oscar-Favoriten sehen.

Das Leben hat Spuren im Herzen von Lee Chandler (Casey Affleck) hinterlassen: Er ist ein in sich gekehrter Mann, der wenig Neigung zeigt, die Nähe anderer zu suchen. Lee ist in einem Ort an der amerikanischen Ostküste aufgewachsen - nun lebt er in Boston und kümmert sich als Handwerker um einen Wohnblock in der großen Stadt. Und es gibt nichts, was ihn zurück in das Küstenstädtchen Manchester ziehen könnte, wo die Familie seines Bruders bis heute lebt. Doch eines Tages holt ihn die Erinnerung an längst vergangene Zeiten wieder ein: Sein Bruder Joe (Kyle Chandler) ist überraschend gestorben und hat in seinem Testament verfügt, dass sich Lee fortan um Joes 16-jährigen Sohn Patrick (Lucas Hedges) kümmern soll.

Manche Wunden heilen nie

Lee zeigt zunächst wenig Neigung, sich um seinen Neffen zu kümmern. Doch dessen Schicksal dauert ihn, und so stimmt er schließlich zu. Am liebsten würde er Patrick mit nach Boston nehmen, doch das lehnt der Junge kategorisch ab. So bleibt Lee keine Wahl, als zurück in seine alte Heimat zu ziehen. Was das für ihn bedeutet, kann der Zuschauer anfangs nicht ermessen, doch mit der Zeit wird immer klarer, was Lee dort einst erlitten hat. Als er seiner Ex-Frau Randi (Michelle Williams) begegnet, mit der ihn eine einerseits erfüllte, andererseits aber auch schmerzliche Beziehung verband, brechen viele der alten Wunden wieder auf. Und Lee kann sich nicht länger der Antwort auf die Frage entziehen, wie er die Wunden der Vergangenheit heilen könnte, damit seine Zukunft endlich beginnen kann.

„Man weiß nie, warum man das schreibt, was man schreibt“, plaudert Kenneth Lonergan aus dem Nähkästchen des Regisseurs und Drehbuchautors. „Was ich am Filmemachen am meisten liebe, ist der Prozess, in dem eine Geschichte, die anfangs in der Privatsphäre der eigenen Vorstellungskraft entwickelt wurde, zu einem emotionalen Besitz anderer Menschen wird. Die Geschichte wird genährt und blüht auf unter der Pflege, den Emotionen und Ideen deiner Mitarbeiter. Sie wird zu einer Art geteilter Fantasie, die allen gehört, bis sie an ein Publikum übergeben wird und - so hofft man - Teil ihres Innenlebens wird, so wie es die Filme wurden, die ich geliebt habe.“

Lonergans Art zu erzählen ist ungewöhnlich in einer Zeit, in der möglichst spektakuläre Effekte häufig den Rhythmus einer Ex-und-Hopp-Dramaturgie vorgeben. Wo andere in flottem Tempo durch ihre Geschichte eilen und dabei oft vergessen, dass sie es mit Menschen aus Fleisch und Blut zu tun haben, die sich mit all ihren Ecken und Kanten einer eindimensionalen Darstellung entziehen, nimmt sich der Regisseur viel Zeit, seine Charaktere bis in die weniger zugänglichen Winkel ihrer Persönlichkeit auszuleuchten. Er gibt ihnen Gelegenheit, sich in Rückblenden ihrer Vergangenheit zu stellen und sich so ihrer Gegenwart zu vergewissern. Dabei lotet er die ganze Bandbreite der Gefühle aus und schafft es, das schwierigen und oft schmerzvolle Beziehungsgeflecht zu zeigen, das seine Protagonisten verbindet - ob sie es wollen oder nicht. Dass Casey Affleck für seinen großartigen Auftritt mit einem Golden Globe ausgezeichnet wurde und nun als Oscar-Anwärter gilt, spricht für sich. Doch Michelle Williams und der junge Lucas Hedges stehen ihm in nichts nach, wenn es gilt, feinste Nuancen in der Gefühlswelt ihrer Figuren zu erkunden.

Kenneth Lonergans Kino-Drama „Manchester by the Sea“ erzählt von einem gebrochenen Mann, der in seinen Heimatort zurückkehrt und dort mit den Verletzungen seiner Vergangenheit konfrontiert wird. Ein ganz starkes Stück Kino, das nicht von ungefähr als Oscar-Favorit gilt.